- Literaturnobelpreis 1994: Kenzaburō Oe
- Literaturnobelpreis 1994: Kenzaburō OeDer japanische Schriftsteller erhielt den Preis für die Erschaffung einer Welt in seinem Werk, »in der sich Leben und Mythos zu einem erschütternden Bild des Menschen in der Gegenwart verdichten«.Kenzaburō Oe, * Ose (Präfektur Ehime) 31.01.1935; 1947-53 Besuch der Mittelschule und zweier Oberschulen; 1954-56 Allgemeinstudium an Japans Eliteuniversität Todai; 1956-59 Romanistikstudium, seitdem freier Autor, unterbrochen nur von zahlreichen Lehrttätigkeiten und Forschungsaufenthalten im Ausland.Würdigung der preisgekrönten LeistungDass Kenzaburō Oe 1994 den Nobelpreis erhielt, war für die meisten Literaturkritiker im Westen eine große Überraschung. Der Autor war hierzulande bis dahin weitgehend unbekannt, obwohl er in seiner Heimat seit Jahrzehnten zu den meistgelesensten Schriftstellern gehörte und durch seine unerbittliche Einstellung gegen Atomwaffen und rechtsradikale Tendenzen auch als eine moralische Instanz galt. Mit sonst nicht gekannter Konsequenz machte er das Kriegsende zum Ausgangspunkt seines Weltverständnisses und oft genug ganz konkret zum Ausgangspunkt seiner Romane und Erzählungen. Beispielhaft dafür seien hier die »Hiroshima-Notizen« (1965) genannt, die zum Bestseller wurden.Große Anerkennung schon in jungen JahrenOe stammt aus einer bäuerlich geprägten Familie. Und obwohl ihn die weiterführenden Schulen zwischen 1947 und 1953 immer weiter fort aus der Provinz brachten, blieb er im Geist und in seinen Büchern immer in dieser Welt verwurzelt. Die Erschütterungen durch die Niederlage Japans, das Ende des faschistischen Tenno-Staats und die folgende Umerziehung durch die Amerikaner hinterließen einen tiefen Eindruck bei dem jungen Schüler. 1954 erreichte er als 19-Jähriger die Zulassung zur bedeutendsten Universität des Lands, der Tokyo daigaku, kurz Todai genannt, wo er sich ab 1956 auf französische Literatur spezialisierte. Doch die universitäre Ausbildung hatte damals kaum noch Bedeutung, denn zwei Jahre zuvor war seine erste Erzählung »Eine seltsame Beschäftigung« erschienen und im Frühjahr 1958 erhielt er für die Erzählung »Der Fang« bereits den begehrten Akutagwa-Preis. Darin erlebt ein zehnjähriger Ich-Erzähler in den letzten Kriegstagen 1945 in seinem Heimatdorf, wie Bauern einen amerikanischen Schwarzen, den Überlebenden aus einer abgeschossenen US-Maschine, wie ein Stück Vieh in einen Keller sperren. Die Jugendlichen im Dorf schließen Freundschaft mit dem Soldaten, doch dann kommt es zum Drama: Der Icherzähler wird vom Schwarzen als Geisel genommen, sein Vater bringt den Gefangenen um und verletzt dabei seinen Sohn. Schon in diesem Roman gelingt es Oe, jene apokalyptische Stimmung zu erzeugen, die Jahrzehnte später von der Schwedischen Akademie besonders gewürdigt werden sollte.Von jetzt an wurde er zur »Neuen Literatur« gerechnet, einer Hand voll Autoren, deren Anliegen es war, sämtliche Tabus der japanischen Gesellschaft zu beseitigen. Oe arbeitete wie besessen, veröffentlichte nacheinander die Romane »Reißt die Knospen ab«, »Unser Zeitalter« und den Essay »Die Welt unserer Sexualität«. 1966 legte er als 31-Jähriger bereits seine erste Gesamtausgabe vor, die es auf rund 2000 Seiten brachte.Literat und moralische InstanzWenn Oe in diesen Jahren zu einem Wortführer seiner Generation wurde, lag das jedoch nicht nur an seiner Rolle als Schriftsteller, sondern auch an der Tatsache, dass er stets auch in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen Position bezog: 1960 stand der am Ende der Besatzungszeit geschlossene japanisch-amerikanische Sicherheitsvertrag zur Verlängerung an. Linksparteien, Gewerkschaften und Studenten organisierten große Protestdemonstrationen, das Regierungsviertel glich in den Wochen vor dem Vertragsabschluss einem Hexenkessel. Es gab zahlreiche Verletzte, eine Studentin starb. Oe veröffentlichte in dieser bewegten Zeit zwei Prosastücke, die die japanische Öffentlichkeit aufwühlten. Die Texte »siebzehn II« und »Tod eines politischen Jugendlichen« trugen ihm heftige Kritik von seiten der Linken und gleichzeitig Morddrohungen von rechtsradikalen Gruppen ein.Ein privater Schicksalsschlag1960 heiratete Oe die älteste Tochter des bekannten Filmregisseurs Mnsaku Itami, Yukari. 1963 wurde dem Paar der erste Sohn geboren: Hikari (»Der Leuchtende«) kam mit einer Gehirnhernie auf die Welt; lange war unklar, ob er überhaupt überleben würde und überleben sollte. Das Ehepaar ließ Hikari operieren, doch bis zu seinem fünften Lebensjahr ließ er kaum eine Reaktion auf die Umwelt erkennen.Die schon immer enge Verknüpfung Oes zwischen Leben und Fiktion erlebte dadurch einen neuen Höhepunkt: Im August 1964 veröffentlichte er seinen Roman »Eine persönliche Erfahrung«, der in Japan wie auch international zum meistgelesensten seiner Werke wurde und in dem ähnlich wie im »Fang« Realität und Fiktion nur einen schmalen Streifen voneinander entfernt sind.Im Buch ringt der Vater »Bird« nach der Geburt seines mit einer Gehirnhernie geborenen Sohnes wochenlang um seine Fassung, versinkt in einem Delirium aus Alkohol und Sexorgien, ehe er sich zur Annahme seines Schicksals und seines behinderten Kindes entscheidet. Oe gelingt es, das Erfahrbare mit gleicher Heftigkeit und Intensität wie das tatsächlich Erfahrene zu schildern und damit Fiktion und Wirklichkeit miteinander zu verschmelzen. Er provoziert mit seiner Sprache und der detaillierten Beschreibung sexueller Fantasien; doch dieser Provokation liegt nicht die Lust am Schockierenden, sondern vielmehr die verzweifelte Suche nach Heil und Wahrheit zugrunde.Auch seine späteren Werke kreisen immer wieder um die Behinderung seines Sohns. Hikari, Hiroshima und die Heimat bilden also die drei Themen, um die sich Oes literarisches Schaffen dreht. Auch in seinem 1967 veröffentlichten Roman »Der stumme Schrei« kommt ein behindertes Kind vor. Im Mittelpunkt der Geschichte um die Familie Nedokoro stehen die beiden ungleichen Brüder Mitsu und Taka, an deren Schicksal Oe versucht, die Geschichte des modernen Japan nachzuerzählen. Dabei entwirft er ein Labyrinth, aus dem kein Faden führt, das aber durch seine gewaltige Sprache den Leser gefangen nimmt.In den folgenden Jahrzehnten führten Oe zahlreiche Reisen und Forschungsaufenthalte in die USA, nach Mexiko und Europa. Seinen Themen blieb er treu. Auch die in den 1980er-Jahren entstandene Romantrilogie »Der grünflammende Baum« wurzelt in seinem Dorf, ebenso der 1986 erschienene Roman »Die Geschichte vom Mysterium von M/T und dem Wald«.Oe ist stets ein unbequemer Bürger seines Landes geblieben, berüchtigt und auch gefürchtet wegen seines moralischen Rigorismus — und nicht von ungefähr ein enger Weggefährte von Günter Grass. 1994, wenige Tage nach seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis, hat er beispielsweise den höchsten staatlichen Kulturpreis abgelehnt, mit der Begründung, er sei nicht gewillt, von der Regierung einen Orden zu akzeptieren. Auch jegliche postume Ehrung in seiner Heimat hat er sich verbeten.M. Geckeler
Universal-Lexikon. 2012.